Jugendfeuerwehr nach der Flutkatastrophe

Lauffeuer-Fachinformation

Die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hat unzählige Menschen in einen psycho sozialen Ausnahmezustand gebracht. Betroffene haben unvorstellbare Szenen miterlebt, ihr Zuhause verloren und stehen vor einer ungewissen Zukunft. Neben den erlittenen materiellen Schäden trauern viele um Angehörige, Freunde und Bekannte, die getötet worden sind. Die Belastungen sind individuell so unter schiedlich, dass man nicht einmal ansatzweise alle aufzählen kann. Es ist eine Katastrophe, wie wir sie in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben – und sie hat sich zu einem Zeitpunkt ereignet, als die gesamte Bevölkerung durch die Coronavirus-Pandemie ohnehin schon monatelang stark belastet gewesen ist.

Für Kinder und Jugendliche ist das Katastrophengeschehen aus vielen Gründen besonders schlimm. Die Pandemie-Monate sind durch die wochenlangen Schulschließungen sowie die vielfältigen Verzichts- und Verlusterfahrungen schon sehr belastend gewesen; die Trauer, Sorgen und Zukunftsängste vieler junger Menschen sind daher kaum in Worte zu fassen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welchen Beitrag Jugendfeuerwehren zur Bewältigung des Geschehenen leisten können. Auch wie innerhalb einer Jugendgruppe mit u. U. traumatischen Erfahrungen umgegangen werden soll, dürfte bei vielen Jugendwartinnen und Jugendwarten aktuell für einige Verun sicherung sorgen. Die folgenden Ausführungen sollen daher erste Hilfestellungen und Leitlinien geben, an denen man sich orientieren kann.

1. Eigenschutz geht vor

Zunächst einmal scheint dieser Hinweis angebracht: Viele Jugendwartinnen und Jugendwarte sind selbst tage- oder sogar wochenlang im Einsatz gewesen. Einige sind auch ganz persönlich betroffen, weil die eigene Wohnung bzw. das eigene Wohnhaus beschädigt oder zerstört worden ist. Einige trauern zudem selbst um Kameradinnen und Kameraden, die bei der Flutkatastrophe ihr Leben verloren haben.

Möglicherweise fehlt dann einfach die Kraft, sich auch noch um Jugendarbeit zu kümmern – und dies sollte keinesfalls ein schlechtes Gewissen machen. Die eigenen Ressourcen sind nun einmal endlich, und in einer Katastrophe können sie vorübergehend schichtweg erschöpft sein. Niemand sollte sich dafür schämen oder einen Loyalitätskonflikt empfinden, wenn er oder sie sich im Augenblick – beim besten Willen – nicht wie sonst für die Jugendfeuerwehr engagieren kann. Ganz im Gegenteil: Eigene Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren, ist ein Zeichen von Souveränität und Stärke. Nur wer selbst stabil ist, kann anderen Menschen Halt und Sicher heit vermitteln.

Deshalb lautet eine Grundregel:
Oberste Priorität sollte das eigene Wohlergehen haben. Jeder Jugendwart sollte auf seine eigene Gesundheit achten, für ausreichende Erholung sorgen und ggf. professionelle Nachsorgeangebote in Anspruch nehmen. Dann ist auch wieder Engagement in der Jugendfeuerwehr möglich!

2. Gemeinschaft als Ressource

Bei der Bewältigung von Krisen und Katastrophen hat die Zugehörigkeit zu einer Gruppe eine große Bedeutung. Die Einbindung in eine Gemeinschaft trägt dazu bei, mit schwierigen Situationen umzugehen, wenn man sich in ihr gut aufgehoben, wertgeschätzt und verstanden fühlt. Auch die Kameradschaft in der Jugendfeuerwehr kann Kindern und Jugendlichen deshalb sehr dabei helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Gerade nach der Flutkatastrophe können die übrigen Mitglieder der Jugendfeuerwehr, vor allem aber auch die Jugendwartinnen und Jugendwarte wichtige Bezugspersonen sein.

In der Jugendfeuerwehr kann, darf und soll das gemeinsame Katastrophenerleben unbedingt Raum finden und thematisiert werden. Stehen Trauer und Verlusterfahrungen im Vordergrund, ist z. B. ein gemeinsames Gedenken
angebracht. Vor allem Rituale können Trost spenden, Halt geben und die Gemeinschaft stärken:

  • eine Hoffnungskerze anzünden,
  • eine Andacht veranstalten,
  • einen spirituellen Text vortragen,
  • einen Ort mit Symbolwirkung aufsuchen,
  • ein bestimmtes Lied singen bzw.
  • eine bestimmte Musik hören usw.

Auch über die gesammelten Erfahrungen zu sprechen, ist grundsätzlich immer besser als dar-über zu schweigen. Wichtig ist aber, dass Gespräche niemals aufgezwungen werden dürfen. Vor allem Gruppengespräche – die sogenannten „Debriefings“ – setzen stets eine freiwillige Teilnahme voraus und sollten nur von mehreren, speziell dafür ausgebildeten Personen moderiert werden. Teams für die Psychosoziale Unterstützung (PSU) bzw. Einsatznachsorgeteams können hier sicherlich ihre Unterstützung anbieten.

Unbedingt gilt es zu akzeptieren, wenn ein Kind oder Jugendlicher nicht über bestimmte Dinge sprechen möchte. Manche Erfahrungen zu schildern, kann ein Trauma triggern oder „reaktivieren“. Unter Umständen kann es dann so sein, als würde die traumatische Erfahrung noch einmal durchlebt – und das muss natürlich vermieden werden. In Jugendgruppen sollte man aus diesem Grund klare Regeln vereinbaren:

  • Wir sprechen über alles, worüber wir sprechen möchten.
  • Jeder darf sagen, was er denkt und fühlt.
  • Wenn es jemanden zu viel wird oder etwas nicht sagen möchte, ist das ok.
  • Jeder darf „Stop“ sagen, wenn das Thema lieber gewechselt werden soll. Daran müssen sich dann alle halten.
  • Alle nehmen Rücksicht aufeinander. Alle respektieren einander. Alle hören zu, wenn jemand etwas erzählen möchte.
  • Wenn es sehr persönliche Schilderungen sind, wird damit verantwortungsvoll umgegangen. Es wird zum Beispiel nichts „weitergetratscht“, in sozialen Medien gepostet usw.

Klare Regeln helfen dabei, einen „Gesprächskorridor“ zu öffnen, in dem man sich bewegen kann, ohne Angst vor einer bestimmten Gesprächssituation haben zu müssen. Einerseits erleichtern sie den Austausch, andererseits begrenzen sie ihn aber auch. Das vermittelt Sicherheit und gibt einen geschützten Rahmen vor.

3. Hilfreiche Aktivitäten

Um sich in einer Katastrophe nicht komplett ohnmächtig, ausgeliefert und hilflos zu fühlen, sind Aktivitäten wichtig. Beispielsweise sind gemeinsame Hilfsprojekte möglich, etwa eine Spendensammlung, eine Aufräumaktion oder die Übernahme von Besorgungen für Menschen, die von der Flutkatastrophe ganz besonders betroffen sind. Vielleicht kann man bestimmten Personen auch einfach eine kleine Freude bereiten – mit einem gemeinsam gebastelten Gegenstand oder einem gemeinsam verfassten Brief. Der Kreativität sind hier kaum Grenzen gesetzt. Solche Aktivitäten, die anderen helfen, helfen letztlich auch einem selbst. Etwas Gutes zu tun, fühlt sich auch gut an – wer weiß das besser als die Kameradinnen und Kameraden der Jugendfeuerwehr!

Außerdem kann, darf und sollte man sich auch selbst etwas Gutes tun: Bei einem Spiel- oder Bastelnachmittag, einem Grillabend oder einem Ausflug kann man z. B. auf andere Gedanken kommen, und es wird deutlich: Solche schönen Dinge sind auch nach der Katastrophe immer noch möglich – es geht also weiter! Bei derartigen Aktivitäten sind allerdings mögliche „Trigger“ zu beachten: Spiele mit Wasser könnten bei manchen Kindern im Moment vielleicht Ängste hervorrufen. Womöglich wecken auch bestimmte Gerätschaften Erinnerungen an das Erlebte. Daher sollten zunächst einmal Vorschläge für gemeinsame Aktivitäten gemacht und dann mit den Mitgliedern der Jugendgruppe abgestimmt werden. Generell sollte sich in den kommenden Wochen und Monaten nicht alles nur noch um die Katastrophe drehen: Einerseits soll und muss dem Geschehenen natürlich Raum und Zeit gegeben werden. Andererseits soll es aber auch Gelegenheiten geben, dem Thema „Flut“ zu entkommen, und in denen zumindest Teile des früheren, vertrauten Alltags wiedergefunden werden können.

4. Informationen

Wichtig sind für die Bewältigung einer Katastrophe Informationen. Wer in die Jugendfeuerwehr eingetreten ist, dürfte durchaus auch ein gewisses Interesse daran haben, wie es zu Unglücken kommen kann. Die Mechanismen, die zur Flutkatastrophe geführt haben, könnten Kindern und Jugendlichen gegenüber daher in leicht verständlicher Weise erklärt und anschaulich gemacht werden. Zugleich sollte darauf hingewiesen werden, was für ein außergewöhnliches (und extrem seltenes!) Ereignis eine solche Katastrophe ist. Einige Kinder und Jugendliche wird eventuell auch interessieren, wie ein Krisenstab arbeitet, wie Einsatzkräfte in Großschadenslagen koordiniert werden usw. Der Fokus sollte bei derartigen Informationen darauf liegen, dass in einer großen Katastrophe immer auch sehr viel Hilfe geleistet wird – und dazu insbesondere die Feuerwehren einen wichtigen Beitrag leisten.

Informationen sind aber noch in einer anderen Hinsicht wichtig; hier spricht man von „Psychoedukation“. Gemeint ist damit, dass Kinder und Jugendliche darüber informiert werden sollten, welche Belastungsreaktionen nach einer Katastrophe bei ihnen selbst auftreten können. Solche Symptome (siehe Infobox) sollten nicht „angebahnt“ werden, aber der Hinweis, dass bestimmte Reaktionen sehr verständlich sind und in den meisten Fällen nach einiger Zeit auch wieder abklingen, wird oftmals als sehr entlastend und beruhigend erlebt. Nicht zuletzt können Kindern und Jugendliche einige Tipps und Hinweise gegeben werden, wie sie selbst gut für sich sorgen können:

  • Suche dir mindestens eine Person, der du vertraust und sprich mit ihr darüber, was du erlebt hast. Sag ganz offen, was du fühlst und denkst. Wenn dir das lieber ist, kannst du deine Gefühle und Gedanken natürlich auch aufschreiben, beispielsweise in einem Tagebuch!
  • In den Zeitungen und im Fernsehen wird momentan sehr oft und sehr ausführlich berichtet. Schau dir das nicht alles an!
  • Uberlege, was dir sonst immer Freude bereitet hat, womit du dich früher ablenken oder entspannen konntest. Nutze solche Dinge auch gerade jetzt ganz bewusst!
  • Triff dich mit Menschen, mit denen du gerne zusammen bist. Wenn du Freundinnen und Freunde hast, die das Gleiche erlebt haben wie du, unterstützt euch gegenseitig und hört einander zu.
  • Vielleicht hast du auch eine ganz eigene Idee, was jetzt noch weiter helfen kann? Dann sprich deine Freundinnen und Freunde sowie die Erwachsenen in deiner Umgebung darauf an!
  • Lass die Finger weg von Alkohol und Drogen! Zu Trinken und Drogen zu nehmen, hilft dir auch jetzt überhaupt nicht weiter. Das macht dir nur neue Probleme!

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) hat zur Psychoedukation für Kinder und Jugendliche nach Katastrophen zwei Flyer veröffentlicht, die man im Internet kostenlos herunterladen kann:

Kinder und Jugendliche können sich auch selbst Hilfe holen, beispielsweise hier:

  • Nummer gegen Kummer; erreichbar von montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 116 111.

Belastungsreaktionen nach einer Katastrophe

Viele Menschen reagieren auf Krisen, Unglücke und Katastrophen mit sogenannten Belastungsreaktionen. Bei Kindern und Jugendlichen können z. B. Schlafstörungen, Gereiztheit bzw. Aggressionen, Konzen tra tionsstörungen, Nervosität und sich immer wieder aufdrängende Erinnerungen auftreten. Auch unterschiedlichste Sorgen, Ängste und anhaltend negative („kreisende“) Gedanken werden oftmals geäußert. Manche Kinder spielen zudem „post-traumatisch“, d. h. in ihrem Spielverhalten wird das Erlebte zum Ausdruck gebracht, oder es treten andere Verhaltensauffälligkeiten auf. Dazu gehört u. U. auch eine heftige Reaktion auf „Hinweisreize“ – nach der Flutkatastrophe könnte dies beispielsweise ein starker Regen sein, ein besonderes Geräusch oder ein bestimmter Anblick.

All diese Reaktionen sind zunächst einmal völlig verständlich und keineswegs ungewöhnlich. In den ersten vier bis sechs Wochen nach dem Geschehen sollte man sie als Teil des Bewältigungsprozesses betrachten: Sie machen deutlich, dass ein Kind in dieser Zeit besondere Zuwendung, Aufmerksamkeit und Unterstützung benötigt. In vielen Fällen klingen die Symptome dann auch wieder ab. Bleiben sie jedoch länger bestehen oder führen sie zu einer starken Einschränkung des Alltags, sollte unbedingt professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. Unter Umständen kann sich eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt haben, die einer therapeutischen Behandlung bedarf.

5. Fachliche Unterstützung einbeziehen

Die Bewältigung der Flutkatastrophe kann nur gemeinsam gelingen. Deshalb ist viel Austausch untereinander angebracht. Jugendwartinnen und Jugendwarte sollten beispielsweise auch einen Elternabend veranstalten, um über die Planungen innerhalb der Jugendfeuerwehr zu informieren und um mit Vätern und Müttern darüber zu sprechen, wie sie die Situation ihrer Kinder einschätzen.

In manchen Fällen werden sich fachliche Fragen ergeben, die Jugendwartinnen und Jugendwar-te nicht ohne weiteres beantworten können. Der Umgang mit traumatisierten Kindern ist mitunter nicht einfach, und es können sehr spezielle, komplexe Probleme auftreten, bei deren Bewälti-gung man fachliche Unterstützung braucht. In solchen Fällen sollte man sich ohne zu zögern an die Akteure der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) vor Ort, die nächstgelegene Erzie-hungsberatungsstelle, eine Traumaambulanz (sofern in der Umgebung vorhanden) oder nieder-gelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wenden.

Kompetenten Rat und weiterführende Hilfe findet man u. a. auch hier:

  • Hochwasser-Hotline des Berufsverbandes deutscher Psychologinnen und Psychologen (Bdp); erreichbar montags bis sonntags von 16.00 bis 20.00 Uhr unter 0800 – 777 22 44.
  • Elterntelefon (auch für andere Erziehende); erreichbar montags bis freitags von 9.00 bis 17.00 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 17 bis 19 Uhr unter 0800 – 111 0 5550.

Unbedingt muss darauf geachtet werden, dass man nur seriöse Fachleute kontaktiert und sich auch nur von diesen unterstützen lässt. Katastrophen ziehen leider immer auch selbsternannte Expertinnen und Experten, Geschäftemacher und manche anderen Menschen an, die – diploma-tisch formuliert – nichts Gutes im Schilde führen. Gerade Kinder und Jugendliche müssen vor solchen Personen geschützt werden!

Literaturtipps für Jugendwartinnen und Jugendwarte

  • Karutz, Harald (2020): Notfälle und Krisen in Schulen. Prävention, Nachsorge, Psychosoziales Management. 2. Auflage. Edewecht: Stumpf & Kossendey.
  • Krüger, Andreas (2011): Powerbook. Erste Hilfe für die Seele. Trauma-Selbsthilfe für junge Menschen. Hamburg: Elbe & Krüger.
  • Lohmann, Maike (2020): Traumatisierte Schüler in Schule und Unterricht. Grundwissen, Strategien und Praxistipps für Lehrer. 3. Aufl. Hamburg: AOL.
     

Kontaktanschrift des Autors

Prof. Dr. Harald Karutz

MSH Medical School Hamburg Fakultät Humanwissenschaften Am Kaiserkai 1, 20457 Hamburg

Mail: harald.karutz@medicalschool-hamburg.de